Selbstoptimierung – Fluch oder Segen


Meine Trainingsapp, die mich jahrelang begleitet hat funktioniert nicht mehr auf dem neuen Handy. Das macht mich recht unglücklich, schließlich schaue ich gerne nach, wie lange, wie weit ich gefahren oder gegangen bin. Wie viel Zeit ich mit Training verbracht habe und wie viele Kalorien ich verbraucht habe. Ich gebe auch zu, ich zeige das sehr gerne her. Beim Durchschauen der App Angebote fand ich viel mehr Funktionen, die ich so gar nicht haben will, ohne die sie aber nicht wirklich funktionieren.https://euromeal.com/blog/article/120-Selbstoptimierung-Fluch-oder-Segen

Was ist Selbstoptimierung?

Mit meiner App habe ich schon eine light Variante der Selbstoptimierung betrieben. Ich habe digitale Aufzeichnungen, dass ich mich bewege und trainiere und ich zeige sie beim Arzt her. Man bekommt Lob und Anerkennung dafür, weil man jederzeit belegen kann, dass man etwas für sich tut. Das macht mich sehr stolz. Ich kann damit Menschen beeindrucken und meinen Status heben.

Der Begriff der Selbstoptimierung kommt ursprünglich aus der Medizin. Das Nervensystem hat die Möglichkeit durch Rückkopplung die bestmöglichen Funktionen zu nutzen. Der Begriff wurde dann in die Netzwerktechnik übertragen und nun wird er auf Menschen angewandt. Mit der Selbstoptimierung soll es dem Einzelindividuum ermöglicht werden aus seinen Möglichkeiten, Talenten und Fähigkeiten, das absolute Maximum zu holen und möglichst perfekt und effizient zu sein.

Alles aus dem Leben herausholen

Selbstoptimierer nutzen ihre Zeit in allen Bereichen perfekt. Sie wollen ihr Leben gesünder, glücklicher und bewusster verbringen. Das ist ihr Ziel und damit sie dieses nicht aus den Augen verlieren, unterstützen sie Uhren, Apps, Sensoren am Körper und Programme auf dem Smartphone und anderen Geräten. Alles wird geplant und dann regelmäßig in ganz genau eingeteilten Zeiteinheiten kontrolliert und protokolliert. Programme planen das Essen für den Tag. Vegetarisch, vegan, low carb oder low fat, jeder Aspekt kann berücksichtigt werden.

Schritte werden gezählt und dabei mit einem Sensor Puls und Blutdruck aufgezeichnet. Auch der Schlaf wird so beobachtet. Rem Phase, Tiefschlaf oder Aufwachphase, am Morgen kann man das alles vom Smartphone ablesen. Das Leben ist messbar geworden, es wird keine Zeit mehr verschwendet, man hat die absolute Kontrolle über jede Funktion des Körpers und jeden Moment des Lebens. Auch die Freizeit ist fix geplant und wird überwacht und aufgezeichnet, auch sie wird bis zur letzten Sekunde genutzt. Man ist dann so glücklich, wenn man ein Diagramm ansehen und sich dabei so wohl fühlt sich selber so perfekt im Griff zu haben. 

Wahn oder Segen!

Mit alle diesen Diagrammen und Bewertungen setzen wir uns selbst unendlich unter Druck. Man bewundert Menschen, die so leben könne. Sie gelten als erfolgreich und diszipliniert. Ich stelle mir die Frage, ob mir die Gesellschaft, ein Computerprogramm oder eine noch so nützliche App sagen kann, was mich glücklich macht. Darf ich nicht mehr spontan ein Buch lesen, wann ich möchte? Muss ich beim Rad fahren weiterkommen als gestern, oder darf ich Halt machen und einen schönen Schmetterling auf einer Blüte bewundern? Kommt man bei so einem straffen Plan irgend wann auch zur Ruhe? Dafür ist keine Zeit, denn, hat man sein Leben so optimiert und alle gesteckten Ziele erreicht, dann müssen neue her. Da geht doch noch etwas, Freunde haben noch mehr erreicht. Da kann man doch nicht nachstehen. Daraus wird eine Spirale, die sich immer schneller dreht. Es ist gar nicht möglich, das Erreichte entspannt zu genießen. Zufriedenheit oder Glück haben keinen Platz, solange die absolut Perfektion nicht erreicht ist. Statt den Selbstwert zu steigern, entwertet man sich immer mehr. Ich lasse es nicht zu, dass mir technische Hilfsmittel das Denken abnehmen und das Genießen verbieten. Und ich weigere mich mein Leben dem Konsum zu widmen. Ich brauche keinen dauernden Schrittzähler und keine Schlafkontrolle, keine Nahrungsergänzungsmittel oder andere Pillen und Pulver. Ich lasse meinen Hausverstand nicht digitalisieren.

big brother ist watching you

Als junge Frau hat mich George Orwells Vision aus 1984 von der totalen Überwachung des Individuums sehr erschreckt. Teilweise lässt man recht gedankenlos zu gläsern zu werden. Wir sammeln freiwillig Daten über uns und geben sie in Echtzeit weiter, dass sie große globale Konzerne auswerten und verwenden können. Sie können die damit die Werbung optimieren, die sie uns vorsetzten und uns zu noch mehr Konsum zwingen. Man kann es sich einfach nicht leisten, seinen Status nicht ständig zu zeigen. Mit der totalen Selbstoptimierung gibt man unendlich vieles seiner Person preis. Ich lasse mich nicht in ein Korsett zwingen und ich gebe die Hoheit über mein Leben absolut nicht zur Gänze ab.

Ich hoffe, dass ich eine App für mich finde, die einfach nur Zeit und Kilometer meiner Aktivitäten aufzeichnet, das reicht. Den Rest meiner Zeit verbringe ich mit mir, ich bin zufrieden mit mir und muss niemand etwas beweisen. Das alleine zählt.